Bekenntnis

 
 

     »Ich hör einfach auf damit«, hat Sebastian sich gesagt. »Schluss, verdammt! Ich muss es doch einfach nur lassen!« Seine Rollläden hatte er schon lange nicht mehr hochgezogen. In der abgedunkelten Parterrewohnung summte der Computer, blau flackerte der Bildschirm, und er war ständig online, Flatrate sei Dank. Es ist einfach, sich seine Erregung aus dem Netz zu laden – ekstatisches Stöhnen, Busen, Sperma. Sebastian saß entblößt vor dem Rechner, eine Hand auf der Computermaus, die andere an seinem erigierten Penis, er klickte, schaute, rubbelte – zwanghaft, besessen, bis er wund war, und alles schmerzte, dann begann er von vorn. »An solchen Tagen habe ich nur Leere gespürt, sonst war da nichts mehr«, sagt Sebastian. »Und diesen Moment des Ejakulierens – den würde ich nicht mal Orgasmus nennen. Das war eine körperliche Entleerung. Danach herrschte wieder Dunkelheit.«

Sebastian ist 29 Jahre alt, ein sympathischer Kerl mit blondem glatten Haar und Bartstoppeln. Er studiert in einer Kleinstadt im Süden, verrät aber seinen Fachbereich nicht: Seine Kommilitonen würden schön schauen, wenn sie wüssten, warum er immer so schnell nach den Vorlesungen verschwand. Die Wahrheit: Er hat es nicht mehr ausgehalten. In den schlimmsten Zeiten seiner Sucht musste er sofort nach der Uni nach Hause, um sich selbst zu befriedigen, zurück zu seinen Bildern, in seine dumpfe Trance, in der er Probleme und Einsamkeit wegwichsen konnte.

Anna nickt, als Sebastian seine Geschichte erzählt, dreht an ihren Locken. Eine hübsche Sozialpädagogikstudentin, mit warmer Stimme und Schlabberpulli, eher der »Allerbeste Freundin«-Typ als der Männer fressende Vamp. Die Sex- und Liebessucht hat die beiden zusammengeführt, in der Selbsthilfegruppe von SLAA, den »Sex and Love Addicts Anonymous«.

Zwischen 0,5 und 5 Prozent der Deutschen sind sexsüchtig, schätzen Therapeuten, beschäftigen sich ständig und zwanghaft mit Sex, auf eine Weise, die ihnen weder Spaß noch Vergnügen bringt, sondern Scham, Selbsthass, Verzweiflung. Prominente sind dabei wie Michael Douglas, und überdurchschnittlich viele Akademiker. Etwa drei Viertel der Betroffenen dürften Männer sein. Viele wissen gar nicht, dass es diese Art von Suchterkrankung gibt. Dabei scheint sie kontinuierlich zuzunehmen, wie vor kurzem auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung beklagt wurde. Eine Hauptursache sei das kostenlose und unendliche Angebot im Internet: für stabile Durchschnittsmenschen kein Problem – für Vorbelastete und Empfindsame ein Tor zur Hölle.

Wer abhängig ist von Sex, muss sich keine Droge besorgen – und kann später nicht einen Bogen um sie machen wie der Alkoholiker um Schnaps und der Junkie um Heroin. Die Sucht steckt im Kopf: Dort stachelt Fantasie die Begierde an, dort beginnen Dopamin, Serotonin und Endorphine zu tanzen – in einem Rausch, der Angst betäuben und Euphorie durch den Körper jagen kann. Anna hat sich wie besessen selbst befriedigt, sie nennt es ihr »Schmerz- und Schlafmittel«. Für die 28-Jährige war Masturbation zeitweilig einziger Lebensinhalt – plus Telefonsex in Dating-Lines plus Geschlechtsverkehr mit über zweihundert Fremden, die sie in ihre Wohnung bestellt, mit denen sie geschlafen hat. Alter, Aussehen, Sympathien waren gegen Ende vollkommen egal. Ihre Eltern, sagt Anna, hätten ihre Sexualität rücksichtslos ausgelebt. Als Kind ist sie verschreckt aus dem Schlafzimmer gestolpert, wenn der Papa auf der nackten Mama lag. Am Abendbrottisch wurde zwar die Penisgröße des Vaters diskutiert, doch über Gefühle hat man nie geredet. Anna hat sich geschämt – und gleichzeitig eine heimliche Anziehungskraft gespürt. Sie war noch im Kindergarten, als ihre Hand sich erstmals die geheime, wohlige Wärme zwischen ihren Beinen ertastet hat. Ihr Bruder spielte nackt mit ihr »Geschlechtsverkehr«, da war sie drei und er acht, »missbraucht kann man in dem Alter ja nicht sagen«. Als Anna in die Pubertät kam, und der Bruder siebzehn war, haben sie zwar nicht miteinander geschlafen, »aber Hand angelegt und berührt und geküsst«. Sie seien fixiert aufeinander gewesen. Erst im Vergleich zu den Klassenkameradinnen, die damals erste Freunde hatten, hat Anna gemerkt, dass in ihrer Familie anderes als normal galt »und dass sich irgendetwas schräg anfühlt«.

Es gibt keine simple Erklärung, wie Sucht entsteht. Doch Therapeuten sind sicher, dass eine wichtige Wurzel in der Kindheit liegt. Viele Familien von Süchtigen sind extrem streng, andere zügellos und vernachlässigend wie bei Anna. Liebevoll angenommen werden? Gefühle zeigen dürfen? Fehlanzeige. Überproportional viele Sexsüchtige, so haben Umfragen herausgefunden, sind emotional oder sexuell missbraucht worden. Da muss nicht erst der böse Onkel anrücken – es gibt auch subtile Formen, um eine Kinderseele aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Sebastian erzählt, wie sein Vater plötzlich verschwunden war. Hat beiläufig »Tschüss« zu seinem Sohn gesagt, als würde er eben zum Bäcker gehen – und ist aus dessen Leben verschwunden. Danach habe seine Mutter sich ihm gegenüber komisch verhalten, sagt Sebastian. Hat immer geguckt, kam ständig ins Badezimmer rein: »Ich fühlte mich bedroht durch ihr Interesse an mir als sexuellem Wesen. Und ich habe mich geschämt, wäre nie ohne T-Shirt in der Wohnung herumgelaufen.« Im Urlaub ging’s Campen, wo jeden Morgen der Wohnwagen gewackelt hat von den Stößen kopulierender Erwachsener. Während Sebastian auf der anderen Leitung mithörte, stöhnten Freunde der Mutter ins Telefon, ob sie »bumsen« wolle. Als er elf war, hat seine Mutter einen Porno mit ihm, seinem Cousin und der kleinen Schwester geschaut, gemeinsam auf dem Sofa. Ein besonders Frauen verachtender Film war das, die Bilder seien ihm bis heute eingebrannt, sagt Sebastian leise.

Er fing an, wie wild zu onanieren, rannte auch während des Spielens ins Gartenhäuschen, um sich zu befriedigen. Weil es ihm dann besser ging, »eine bestimmte Zeit war der Schmerz betäubt«. Ab fünfzehn, sechzehn hatte er Freundinnen, von denen er sich rumkommandieren ließ: Zieh dies an, tu jenes – um Sex zu kriegen, machte er alles. Nebenbei: Pornos und Selbstbefriedigung. Die Filme aus der Videothek überspielte er und tarnte sie mit »James Bond«-Aufschrift. Schließlich kam das Internet auf: Sebastian musste nicht mehr in die Öffentlichkeit, um Filme zu besorgen. »Freunde hatte ich nicht mehr. Ich kam nach Hause, setzte mich vor den Computer, Selbstbefriedigung, Pornos, Selbstbefriedigung, schlafen. Am nächsten Tag das Gleiche.«

Sexsucht ist zerstörerisch. Was Spaß und schöne Gefühle geben sollte, wird zur Besessenheit. Während andere genießen, Glück empfinden, nach einem Orgasmus entspannt einschlafen, findet der Süchtige keine Befriedigung. Also macht er weiter, rastlos, gierig,
verzweifelt. Und steigert die Dosis.

Auf dem Höhepunkt der Sucht ist Anna ganze Wochenenden in ihrer Sexwelt abgetaucht. Sie habe sich »abgedichtet«, um die Realität zu verdrängen – ihr Studium, Ärger im Aushilfsjob, ihre innere Leere und Verzweiflung. Am meisten abgefahren ist sie auf die 0190-Dating-Lines. Es war so einfach: einwählen, einen Spruch hauchen, sich mit Männern verbinden lassen – zum Telefonsex oder gleich zu einem Treffen. Manchmal hat sie mehrere Typen an einem Tag antanzen lassen, weil einer es nicht gebracht hat oder sie mehr brauchte in ihrer unermesslichen Sehnsucht. Bei regionalen Dating-Lines standen die Männer binnen 20 Minuten vor ihrer Tür. »Das Fatale war: Ich hab mein Leben aufs Spiel gesetzt, indem ich wildfremde Typen in meine Wohnung gelassen habe«, sagt Anna. Keine Angst? Zweifel? Ekel, wenn die Typen sie alleine liegen ließen in den fleckigen Laken? »Doch. Aber die Sucht war stärker.« Anfangs hat sich Anna die Mühe gemacht, ihre Sexpartner auszuwählen, hat die Männer erst getroffen, geschaut, ob sie ihr gefallen. Später, in der Not … da habe sie »auch Fliegen gefressen«, sagt sie. Sie sei mit Menschen ins Bett gegangen, mit denen sie sich früher nicht auf der Straße unterhalten hätte. »Wenn ich heute an die Männer denke, mit denen ich Sex hatte, könnte ich kotzen.«

Im Durchschnitt dauert es 15 bis 20 Jahre, bis sich ein Sex- und Liebessüchtiger eingesteht, dass es so nicht weitergehen kann. Dass er vor die Hunde geht. Bei Anna kam dieser Punkt früher: Sie war 26 und schwanger. All die Jahre hatte sie versucht, sich auszutricksen: »Nimm keine Pille – dann denkst du ans Kondom.« Doch wenn’s ernst wurde, reichte die Angst vor AIDS nicht aus. »Die Vorstellung, dass ein Mann in mir kommen würde – das war es doch, was mich angemacht hat«, sagt Anna. Sie hat abgetrieben und bitter um das Kind und ihr verpfuschtes Leben geweint. Als sie wenige Wochen später wieder mit einem Fremden im Bett lag, erkannte sie, dass sie es allein nicht schaffen wird.

Sebastian sagt, er habe einen Moment der Klarheit gehabt, der ihm den ersten Schritt Richtung Aufhören ermöglicht hat. In einer Wochenzeitung entdeckte er eine kleine Anzeige von SLAA und ist zu einem Gruppenmeeting gegangen. Dann hat er die Nacktfotosätze von Exfreundinnen und anderen Frauen zerrissen, 92 CDs mit den geilsten Pornofilmen und -bildern zur Wertstoffsammelstelle gebracht. Am schwersten gefallen ist es ihm, zu Hause das Internet abzuschaffen – dabei fing damit das mühsame »Trockenwerden«, der steinige Weg Richtung Genesung, erst an.

Anna hatte zeitweise ihr Telefon abgemeldet, aber inzwischen hat sie gemerkt: Sie ist selbstsicherer geworden. Dating-Lines, Internet und Pornos haben ihre Anziehungskraft verloren. Jetzt muss sie lernen, die Probleme auszuhalten, die sie mit Sex betäubt hat. »Ich hatte immer eine unendliche Leere in mir«, erklärt sie. »Wahrscheinlich spürt das jeder mal. Aber andere schaffen es, die Leere auszuhalten, sie zu füllen – mit schönen Beschäftigungen, mit Hilfe von Freunden, durch ihre sozialen Netzwerke.« Daran arbeitet sie. Sebastian auch. Es wird eine lebenslange Aufgabe sein, nicht in ihre Suchtmuster zurückzufallen.

Nie mehr Sex muss die Genesung nicht bedeuten. Eher: Nie mehr Sex bis zur Selbstzerstörung. Sondern hinterher lächelnd einschlafen, Arm in Arm mit jemandem, der nicht nur Objekt ist. Den man liebt.

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neon Magazin 01/2005     Dela_Kienle

 

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